Leseprobe TEUFLISCHE SPIELE 1. Kapitel

TEUFLISCHE SPIELE Kapitel 1


Gäste des Xanadu, des neuesten und elegantesten Hotels in Miami Beach, trafen entweder mit einer Flughafenlimousine, einem Taxi oder einem neuen Wagen besserer Marke ein. Mrs. Robert Lee Rutledge aus Richtung Richmond, Virginia, kam mit dem Linienbus der Collins Avenue. Sie war eine zierliche Frau, sah aus wie ein zerrupfter Vogel und trug einen Hut, der Ähnlichkeit mit einem verlassenen Nest hatte. Sie stieg mit ihrer schwarzen Handtasche, einem alten Handkoffer und einem großen braunen Papiersack aus dem Bus, tätschelte ihn, als wäre er ihr Privateigentum, und gurrte zärtlich: "War das aber eine nette Fahrt!" Dabei ließ sie ihre Handtasche fallen, aus der ein Röhrchen Aspirin, ein in eine Papierserviette gewickeltes Stück Zwieback, siebzehn Cents, eine Orange, ein drei Wochen alter Brief von ihrer verheirateten Tochter und eine gelbe Karte vom Amerikanischen Kontrakt-Bridge Verband fielen, die bestätigte, dass Mrs. Rutledge ein Master mit zwanzig oder mehr Masterpunkten war. Die Karte bildete ihr wertvollstes Besitzstück.

Sie sammelte die verstreuten Dinge ein und blickte zum Xanadu empor, das der Schauplatz des Nationalen Frühjahrsturniers des Amerikanischen Kontrakt-Bridge-Verbandes sein würde. Das Xanadu thronte auf seinen fünf Hektar Strandgebiet wie ein riesiger Hochzeitskuchen mit Dachfirsten, Minaretten und Balkonen in Zuckerglasur. Über der Vorderfront formten Neonröhren, durch die ein schmaler goldener Strom floss, die Buchstaben X-A-N-A-D-U. Der Name stammt aus der ersten Zeile des Gedichts von Coleridge:
                    "Und Kublai Khan verfügte, dass in Xanadu
                    ein Prachtpalast gebaut ward, ihm zur Freude."
Hotelnamen, die sündigen Luxus andeuteten – Deauville, Fontainebleau, Versailles und dergleichen –, waren in Miami Beach sehr gefragt. 

Das volle Wort blieb einige Sekunden erleuchtet, dann verschwand es, und das goldene Flüsschen begann wieder von Anfang an zu fließen. Mrs. Rutledge betrachtete das Zwanzig-Millionen-Dollar-Hotel und stellte fest, es müsste doch ein recht netter Platz zum Bridge spielen sein.

Während sie sich, Handtasche, Koffer und Riesenpapiersack in den Händen, auf den Weg zum Hoteleingang machte, sagte einer der Portiers: "Ob man’s glaubt oder nicht, sie kommt hierher. Na schön, einer von euch geht hin und hilft ihr." Keiner rührte sich, daher sagte der Portier in scharfem Ton: "Na also, Juan, du bist dran."

Der zwanzigjährige Juan Gomez, der vor kurzem aus Castros Kuba herübergekommen war, seufzte und stieg die Treppe hinunter. Trotz seiner kurzen Erfahrung wusste er bereits, dass von einem Gast, der mit dem Bus ankam, als Gepäck nur einen alten Handkoffer und einen großen Papiersack, kein lohnendes Trinkgeld zu erwarten war. Er sagte zu Mrs. Rutledge: "Guten Morgen, Madam, ich nehme Ihre Sachen, ja?"

"Ach, wie nett von Ihnen", zwitscherte sie. "Und bitte geben Sie acht mit dem Papiersack, die Kleidungsstücke darin müssen gewaschen werden, und ich möchte nicht, dass sie vor aller Augen ausgebreitet werden; in dem Sack ist nämlich ein kleiner Riss, und er könnte ganz zerreißen. Ich bin zum Bridgeturnier hier." "Bridge?" sagte Juan verständnislos. "Ja, zum Turnier." Bridge, dachte Juan, das war ein Wort, das er heute schon des Öfteren gehört hatte; er musste doch mal feststellen, was es bedeutete. "Hierher, bitte", sagte er.

Die Hotelhalle, in die Mrs. Rutledge eintrat, maß ein Viertel Hektar und war an drei Seiten von einem tropischen Urwald umgeben, der zwanzig Meter hoch zum Himmel wuchs. Es war kein feindlicher, sondern ein wohnlicher Urwald, der durch riesige Glaswände von der Halle zurückgehalten wurde. Hinter dem Glas rankten sich Palmen, Orchideen und allerlei andere Pflanzen auf sorgfältig verteilten Felsen nach oben. Verborgene Lampen erhellten Ausblicke auf Miniaturweiher und –wasserfälle. Im Inneren der Halle hatte der Architekt rund um schwarze Tische, schwarze Stühle und Sofas aus Vinyl gruppiert und sie mit Kissen in Feuerrot, Orange und Gelb garniert. Der palmblattgüne quadratische Teppich mit mehr als 30 Meter Seitenlänge war gut ein Zoll dick, mit großen, erhaben herausgearbeiteten Mustern in Rosa, Purpur und Orange, die aussahen wie exotische Wasserlilien auf einem Teich. Im Osten öffneten sich die Urwaldwände und ließen Freiluftschwimmbassins und Badehütten im Patio und, im Hintergrund, den Atlantischen Ozean sichtbar werden.

Die Halle verursachte bei Mrs. Rutledge ein unbehagliches Gefühl, eine bei ihr recht seltene Reaktion. Sie war nicht sicher, ob das Xanadu sich der Tatsache gegenüber, dass sie die Rechnung nicht bezahlen konnte, so nett verhalten würde wie die meisten anderen Hotels. Sie war aber gar nicht feige, außer ab und zu, wenn es galt, einen Schlemm anzusagen, daher schritt sie zur Rezeption, sagte ihren Namen und dass sie für die zehn Tage des Bridgeturniers ein Zimmer bestellt habe. Eines wusste sie jedenfalls: zeitlich lag sie richtig. Es war erst elf Uhr morgens, noch hatte der Massenandrang nicht eingesetzt, und man würde im Hotel Zeit haben, ihr Problem mit Bedacht und, wie sie hoffte, mit Wohlwollen in Erwägung zu ziehen. Sie schrieb sich ein und wartete, bis der Angestellte den weißen Zettel mit ihrer Zimmernummer und dem Preis, $16 pro Tag, ausgefüllt hatte. "O weh", sagte sie in klagendem Ton, "ich wusste nicht, dass es so viel sein würde."
Der Kopf des Angestellten machte einen Ruck nach oben, und er sagte ungläubig: "Zuviel? Sechzehn im Tag?" "Der Fehler liegt sicher bei mir", sagte sie, während ihr weicher Virginiaakzent wie tröstender Balsam von ihren Lippen strömte. "Ich sehe in letzter Zeit wirklich nicht sehr gut, und ich glaubte auf der Bestätigung, die Sie mir geschickt haben, sechs Dollar gelesen zu haben. Aber ich hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung, was für ein bezauberndes Hotel das hier ist, sonst hätte ich gewusst, wie albern das von mir war. Wie Bobby immer sagte – das war mein verstorbener Mann, Robert Lee Rutledge –, er pflegte zu sagen, Mary Rose, du bist so hübsch wie ein Kolibri, aber du hast auch nicht mehr Verstand als einer dieser Vögel. Das war natürlich vor unvordenklichen Zeiten, vielleicht sah ich damals hübsch aus, zumindest für Bobby. Könnte ich mit dem Direktor, o Gott nein, ich möchte keinen so wichtigen Mann mit meinem kleinen Problem belästigen, aber vielleicht sonst jemand?"

Die Falte auf der Stirn des Rezeptionsbeamten glättete sich allmählich, während die weiche Stimme seine Ohren umschmeichelte. Gegenüber Beschwerden, Geknurre, Spott und Vorwürfen war er abgehärtet, doch das war anders. Die alte Dame hatte gleich zu Beginn zugegeben, dass sie Unrecht hatte. Und die Bemerkung, sie sei einmal hübsch gewesen, wenigstens für ihren Mann, kam irgendwie gut an bei ihm. "Augenblick mal", sagte er und entfernte sich. Kurz darauf kam ein anderer Mann an die Theke und sagte lebhaft: "Guten Morgen, ich heiße Rothman und bin der zweite Direktor. Es scheint hier ein Missverständnis vorzuliegen?" "Auch Ihnen einen guten Morgen", flötete Mary Rose Rutledge. "Wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie sich für mich alte Person Zeit nehmen. Das einzige Missverständnis liegt bei mir und meinem Vogelhirn, und es würde mir um nichts in der Welt einfallen, Sie zu belästigen, wenn ich nicht so lang gespart und mich so sehr darauf gefreut hätte. Es ist mein erstes nationales Turnier. Halten Sie mich nun nicht für eine Hinterwäldlerin, die nicht Bridge spielen kann, nur weil es mein erstes nationales Turnier ist! Ich rangiere in der Bewertung als Masterspielerin. Hier, diese Karte beweist es." Sie holte die gelbe Karte aus ihrer Handtasche und zeigte sie ihm. "Hier steht, dass ich zwanzig oder mehr Masterpunkte erreicht habe, ich muss aber offen zugeben, es sind genau zwanzig, sechzehn schwarze und vier rote Punkte. Wenn aber jemand rote Punkte besitzt, dann spielt er recht gut Bridge, denn rote Punkte kann man nur bei National-oder Regionalturnieren gewinnen."
Während J. B. Rothman lauschte, wurden seine Sinne sanft eingehüllt; er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Rote Punkte! Was waren das für rote Punkte, zum Teufel? Als Kind hatte er während des zweiten Weltkriegs seine Mutter davon sprechen hören, dass man rote Punkte brauchte, um Fleisch zu kaufen. Er versuchte wieder auf das vorliegende Problem zu kommen. "Es handelt sich also anscheinend um den Zimmerpreis, nicht wahr?" fragte er. "Sechzehn Dollar? Mrs. Rutledge, der 10. März fällt für uns in die Hauptsaison, das für Sie reservierte Zimmer kostet zum Normalpreis im März achtundvierzig Dollar. Wir haben für dieses Bridgeturnier wirklich Sonderpreise veranschlagt."
"Ja, ganz sicher, und ich weiß, das Zimmer wäre wunderschön und ist auch bestimmt den geforderten Preis wert, aber ich habe dem netten jungen Mann, der mit mir sprach, bereits gesagt, ich habe mich bei der Bestätigung, die Sie mir sandten, verlesen, ich glaubte, es seien sechs und nicht sechzehn Dollar pro Tag für das Zimmer. Ich bekomme nur achtundsiebzig Dollar und vierzig Cents von den lieben Leuten der Sozialversicherung, und zweihundert von einer Treuhandstiftung, die Bobby vor seinem Tod abgeschlossen hat – das war mein verstorbener Mann, Robert Lee Rutledge –, und ab und zu schickt mir meine drüben in Baltimore verheiratete Tochter einen Zehndollarschein in einem Brief; das ist alles, was ich bekomme, und ich habe mich so darauf gefreut, in Ihrem reizendem Hotel zu wohnen."
"Mrs. Rutledge", sagte er, nicht ganz so lebhaft wie zuvor, "wir haben vierhundert unserer Zimmer zum Sonderpreis für dieses Turnier reserviert, sie sind alle besetzt, und wir werden pausenlos von überallher angerufen, ob noch etwas frei ist. Wenn Sie unangemeldet kämen, könnte ich Ihnen nicht einmal ein Zimmer für achtundvierzig Dollar am Tag geben." 
"Einfach schrecklich, dass ich Sie so belästige", sagte die sanfte Stimme. "Bobby hat es ja auch gleich nach unserer Hochzeit gesagt, Mary Rose – so heiße ich –, Mary Rose, du bist ein lästiges Mädchen. Es ist natürlich schon lange her, dass ich ein Mädchen war, aber leider bin ich immer noch lästig. Hätten Sie nicht vielleicht eine kleine Besenkammer, die Sie mir geben könnten? Ich bin mit ganz wenig zufrieden."
Der Angestellte hatte J. B. Rothman gesagt, die alte Dame hätte so ’ne gewisse Art, mit der sie einen weich machte, aber ihn würde sie doch nicht weich machen, oder? Er sagte schwach: "Madam, im Xanadu gibt es keine Besenkammern. Wir haben eine eingebaute Staubsaugeranlage." Sie sagte leise: "Ich würde auch kaum Ungelegenheiten bereiten. Mein Gott, ich könnte sogar mein Bett selbst machen."
Es war unglaublich, sagte sich Rothman. Das konnte sie ihm doch nicht antun. Er griff nach der Aufnahmekarte, strich die $16 durch, schrieb statt dessen $6, paraphierte sie und stellte den Preis auf ihrer Zimmerkarte richtig. Am Monatsende würde der Buchprüfer deshalb anfragen, der Direktor würde wissen wollen, wie zum Teufel das möglich sei, und J. B. Rothman würde nicht in überzeugender Weise erklären können, was Lächeln, honigsüßer Akzent und flehender Blick einem anzutun vermochten. "Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt bei uns", sagte er mit erstickter Stimme. "Und bitte, machen Sie Ihr Bett nicht selbst, das Zimmermädchen ärgert sich sonst noch. Page, bringen Sie die Dame in ihr Zimmer." Er wandte sich ab, ehe sie ihn mit Dankbezeugungen überschütten konnte.

Mrs. Rutledge folgte Juan Gomez zu der Grotte, die zu den Fahrstühlen führte, und Rothman knurrte zu dem Rezeptionsbeamten: "Ich glaube, da sind wir reingelegt worden." "Hatten Sie einen schlechten Eindruck von ihr?" fragte der andere. "Nein, ich bin nur ganz wirr." Rothman blickte Mrs. Rutledge nach und fragte sich, aus welchem Grund sie so weit zu einem Bridgeturnier gefahren war. Er verstand die üblichen Zusammenkünfte, bei denen sich Leute versammelten, um Geschäfte abzuwickeln, die sie in kleinen Gruppen nicht zu erledigen vermochten. Aber um Bridge zu spielen, brauchte man nur vier Menschen, nicht wahr? Warum kamen sie dann in Schwärmen heran, um täglich bis zu acht Stunden lang auf kleinen vergoldeten Stühlen zu sitzen und einander kalten Rauch ins Gesicht zu blasen? Das war ein Rätsel, wie die Lemminge, die quer durch Norwegen hasteten, um sich in die See zu stürzen. Nun, hoffentlich kam Mrs. Rutledge auf ihre Rechnung. Wenn sie beim Bridgespiel so geschickt war wie bei Hotels, dann musste sie Meisterin sein.

Mrs. Rutledge, die beim Bridge nicht so geschickt war wie bei Hotels und tatsächlich gar nicht wusste, dass sie ein Spiel mit Hotels spielte, das sie immer gewann, trabte glücklich hinter Juan Gomez her. Wenn man den Leuten sein Problem erklärte, überlegte sie, waren sie wirklich nett. Sie wusste nicht, was sie hätte anfangen sollen, wenn es keine Turniere gegeben hätte, zu denen man fuhr, und mit den zweihundertsiebzig Dollar und vierzig Cents im Monat konnte man sich’s nicht leisten, diese horrenden Hotelpreise zu bezahlen. Mein Gott, da war das Essen und das Fahrgeld für den Bus zum nächsten Turnier, und auch noch die Gebühr für jeden Bridgedurchgang. Bei nationalen Turnieren volle drei Dollar für jedes Mal, das sie spielte! Sie glaubte nicht, dass sie für mehr als fünfmal zahlen konnte, sechsmal, wenn sie mit dem Essen Glück hatte.

Juan Gomez führte sie in das Zimmer im zweiten Stockwerk, machte die Runde, um die Einstellung der Klimaanlage zu kontrollieren und die Vorhänge aufzuziehen, während Mrs. Rutledge leise Ausrufe des Entzückens über die Größe des Zimmers, die elegante Einrichtung und die zwei Betten – beide für sie, wenngleich sie nur eines benützen würde – von sich gab. Juan war mit seiner Aufgabe zu Ende und wandte sich zögernd der alten Dame zu, ohne eigentlich ein Trinkgeld zu erwarten. Sie nahm ein Zehncentstück aus ihrer Geldbörse und reichte es ihm mit zweifelndem Lächeln, denn manchmal waren Hotelpagen nicht freundlich, wenn sie zehn Cents bekamen. Juan warf einen Blick auf das Geldstück; bei manchen Gästen war bei einem Dollar nicht mehr als ein Kopfnicken angebracht, aber für die Senora waren zehn Cents wirklich eine große Summe. Er wollte das Geld nicht nehmen, aber das hätte vielleicht wie eine Beleidigung ausgesehen, also nahm er es, verbeugte sich und sagte "Mil gracias, Senora"; dann ging er.

Mrs. Rutledge packte ihre Sachen aus und wusch ihre Wäsche im Badezimmer – es war fast eine Sünde, in einem so schönen Zimmer zu waschen –, steckte ihr elektrisches Plätteisen an und bügelte die Falten aus dem Kleid, das sie abends bei der Wohltätigkeitskonkurrenz für Paare tragen würde, dem ersten Wettkampf des Turniers. Dann ging sie zu der Tür, die zum Balkon führte, und trat hinaus. Die Aussicht raubte ihr den Atem. Hauptgebäude und Seitenflügel des Xanadu umschlossen einen mächtigen Patio, in dem Palmen standen, grüne Springbrunnen schäumten und drei Schwimmbecken diamantfarben in der Sonne glitzerten. Zwei von den Becken waren mit gefiltertem Salzwasser gefüllt; im Atlantischen Ozean jenseits der Kaimauer schwamm fast niemand, denn dort gab es allerhand unsaubere Meerespflanzen und manchmal sogar die blauen Flossen der Portugiesischen Staatsgaleere, einer stacheligen Röhrenqualle. Ein Becken war mit einer Einfassung umgeben und mit geheiztem Süßwasser gefüllt, für den Fall, dass ein Gast keine Lust hatte, sich mit einem Seewasserbecken zu begnügen.

Sie blickte hinunter und fühlte, wie die Erregung eines herannahenden Turniers sie ergriff. Vielleicht würde es wieder so aufregend werden wie vor zwei Monaten in Boston. Sie reiste seit Jahren von einem Turnier zum anderen, ergatterte mühselig da einen schwarzen Punkt und dort den Bruchteil eines schwarzen Punkts; sie hatte schon die Hoffnung aufgegeben, jemals eine Meisterin mit zwanzig schwarzen Punkten zu werden, kaum hatte sie daran zu denken gewagt, jemals einen roten Punkt zu erringen. Sie erwartete nicht, beim individuellen Regionalturnier in Boston etwas zu gewinnen, hoffte aber doch wenigstens auf das aufregende Erlebnis, mit einem oder zwei Life Masters zu spielen. Bei einem Individual-Turnier spielte man jedes Spiel mit einem anderen Partner – im Ganzen sechsundzwanzig Spiele –, und wenn man mit seiner Auslosungskarte Glück hatte, mochte es geschehen, dass man mit Könnern spielte, die man sich bei normalen Paarungen nie als Partner auch nur zu erträumen gewagt hätte. Diesmal war ihre Auslosungskarte einfach verzaubert worden, jeder einzelne ihrer Partner war ein Life Master! Selbstverständlich zeigten sie ihre goldenen Life Master-Karten nicht offen, aber Mrs. Rutledge wusste es aus der Art, wie sie reizten und wie sie ihre Blätter spielten; nachher suchte sie die Namen auf der Ergebnisliste heraus und sah, dass jeder einzelne eine Bridgeverbandsnummer hatte, die mit dem ehrfurchterregenden "L" oder einem anderen Buchstaben begann, die bedeuteten, dass es Bridge-Fürstlichkeiten waren mit mindestens dreihundert Punkten, von denen fünfzig rote Punkte sein mussten. Während dieses zauberhaften Turniers gab es nur wenige Spiele, die Mrs. Rutledge zu spielen hatte, und meist hatte sie nur ganz wenige hohe Karten in ihrem Blatt, so dass während des ganzen Turniers die Großmeister ihr gegenüber saßen, Endspiele und Wiener Coups durchführten, und am Ende erschien auf der Ergebnistafel neben ihrem Namen die große rote Nummer 1; sie war Gesamtsiegerin in diesem Turnier mit einhundertzweiundsiebzig Tischen, hatte vier rote Punkte gewonnen und war Meisterin geworden! Bei den anderen drei Konkurrenzen des Turniers hatte sie kein Glück und endete mit einem schlechten Endergebnis, aber das erste Zauberturnier konnte ihr keiner mehr nehmen, ebenso wenig die vier roten Punkte.

Es war nun Zeit für das Mittagessen, aber sie rührte das Stück Zwieback und die Orange, die sie vom Frühstück aufbewahrt hatte, nicht an; sie würde sie später verzehren. Dann löste sie die Sicherheitsnadel, mit der die kleine Börse innen an ihrem Kleid befestigt war, zählte sorgfältig die Geldscheine – vierundsiebzig Dollar – und steckte neun Dollar in ihre schwarze Handtasche. Es geschah oft, dass sie Dinge fallen ließ, manchmal verlor sie sie auch, und es wäre nicht gut, wenn sie all ihr Geld verlor. Natürlich würde sie mit vierundsiebzig Dollar nicht das ganze Turnier auskommen, aber sie konnte damit rechnen, dass Beau – Beauregard Hollins, der Bobbys bester Freund in Richmond gewesen war – ihr einen Bankscheck auf hundert Dollar von ihrem monatlichen Einkommen schicken würde. Beau war der netteste alte Herr, den man sich denken konnte, er erledigte alle Geschäfte für sie, und da er Besitzer des James Landing Hotels in Richmond war, ließ er sie immer umsonst dort wohnen, wenn es keine Turniere gab, bei denen sie mitmachen konnte.

Sie ging nach unten und fragte den Portier, ob keine Briefe für sie gekommen seien. Nein, es gab keine. Einen Augenblick ließ sie die Schultern hängen; den letzten Brief von ihrer Tochter aus Baltimore hatte sie vor drei Wochen erhalten. Nun benimm dich aber nicht albern, Mary Rose, sagte sie zu sich, Barby hat das große Haus zu führen, den vielbeschäftigten Mann und drei Kinder, sie findet einfach keine Zeit, alle Augenblicke Briefe zu schreiben. Sie straffte die Schultern, suchte den Eingang zum Kaffeesalon im Tiefparterre des Xanadu und trat ein; sie nahm an einem langgestreckten Tisch Platz, an dem viele Leute saßen, und bestellte eine dicke nahrhafte Suppe und eine Tasse Tee. Als der Tee kam, öffnete sie fünf kleine Zuckersäckchen – Zucker verlieh einem Energie, und fünf Säckchen kosteten keinen Cent mehr – und leerte den Inhalt in ihren Tee. Während sie die Suppe aß und Tee trank, holte sie nochmals Barbys Brief aus ihrer Tasche hervor. Sie las ihn wieder, in der Hoffnung, einen Hinweis Barbys übersehen zu haben, sie solle doch zu Besuch nach Baltimore kommen. Aber da war nur die Rede davon, wie viel Barbys Mann zu arbeiten hatte, dass der kleine Jimmy vielleicht die Masern bekäme, und wie viel Zeit Barby für die Führung des Haushalts und ihre Stellung als zweite Vizepräsidentin des Frauenklubs brauchte.

Als einer der Gäste den langen Tisch verließ, blieben auf seinem Teller zwei von den vier kleinen Dreiecken eines Schinkensandwichs mit Salat und Tomaten zurück. Mrs. Rutledge langte, ohne schuldbewusste Seitenblicke und ohne Hast, die Aufmerksamkeit erregt hätten, über den Tisch und zog den Sandwichteller zu sich herüber. Das war ein feines Mittagessen geworden, und heute Abend konnte sie auf eine Gratismahlzeit nach dem Bridgespiel rechnen – Kaffee und Kuchen, vielleicht sogar noch Sandwiches –, außerdem hatte sie noch die Orange und den Zwieback auf ihrem Zimmer, und sieh nur, da stand einer auf und ließ mehrere Pfannkuchen in Reichweite zurück! Sie schob sie in ihre Papierserviette und steckte sie in die Handtasche.
Alles entwickelte sich sehr nett, abgesehen vom Fehlen des Briefes. Wenn es keine Bridgeturniere gäbe, was hätte sie dann wohl getan? Sie war nun siebenundsechzig Jahre alt, die meisten ihrer Freunde waren gestorben oder fortgezogen; die anderen wollten nur stillsitzen und von ihren Wehwehchen reden. Die Fahrten zu den Bridgeturnieren bewahrten sie davor – nun ja, eigentlich vor dem Sterben. Bei den Turnieren gab es immer so interessante Menschen, die hätten einen abseits vom Bridgetisch vielleicht gar nicht angeblickt, wenn man aber mit ihnen oder gegen sie spielte, dann gehörte man selbst zu den wichtigsten Menschen der Welt. Es gab Glück und Unglück; das Glück ein Spiel zu machen, bei dem man fallen sollte, das Unglück, eines zu verlieren, das man machen sollte. Und es gab die Hoffnung, dass auch diesmal, wie in Boston, eine gütige Fee hinter deinem Stuhl schweben, dich mit ihrem Zauberstab berühren und flüstern würde, Mary Rose, steig ein in diese kleine alte Kürbiskutsche, dann wollen wir sehen ob wir dich bei diesem Bewerb zur Gesamtsiegerin machen können. Ach ja, das war das Leben in seiner ganzen Pracht!
Sie verließ den Kaffeesalon und ging nach oben, um sich die Aushänge für das Turnier anzusehen und sich vor Beginn zu vergewissern, wo das Partner-Komitee tagte. Vielleicht würde ihr gerade heute das Komitee einen wunderbaren Partner bescheren, einen Meister, der alle schwierigen Blätter spielen und sie nie böse ansehen würde, wenn sie einen Fehler beging.

Kapitel 1


Gäste des Xanadu, des neuesten und elegantesten Hotels in Miami Beach, trafen entweder mit einer Flughafenlimousine, einem Taxi oder einem neuen Wagen besserer Marke ein. Mrs. Robert Lee Rutledge aus Richtung Richmond, Virginia, kam mit dem Linienbus der Collins Avenue. Sie war eine zierliche Frau, sah aus wie ein zerrupfter Vogel und trug einen Hut, der Ähnlichkeit mit einem verlassenen Nest hatte. Sie stieg mit ihrer schwarzen Handtasche, einem alten Handkoffer und einem großen braunen Papiersack aus dem Bus, tätschelte ihn, als wäre er ihr Privateigentum, und gurrte zärtlich: "War das aber eine nette Fahrt!" Dabei ließ sie ihre Handtasche fallen, aus der ein Röhrchen Aspirin, ein in eine Papierserviette gewickeltes Stück Zwieback, siebzehn Cents, eine Orange, ein drei Wochen alter Brief von ihrer verheirateten Tochter und eine gelbe Karte vom Amerikanischen Kontrakt-Bridge Verband fielen, die bestätigte, dass Mrs. Rutledge ein Master mit zwanzig oder mehr Masterpunkten war. Die Karte bildete ihr wertvollstes Besitzstück.
Sie sammelte die verstreuten Dinge ein und blickte zum Xanadu empor, das der Schauplatz des Nationalen Frühjahrsturniers des Amerikanischen Kontrakt-Bridge-Verbandes sein würde. Das Xanadu thronte auf seinen fünf Hektar Strandgebiet wie ein riesiger Hochzeitskuchen mit Dachfirsten, Minaretten und Balkonen in Zuckerglasur. Über der Vorderfront formten Neonröhren, durch die ein schmaler goldener Strom floss, die Buchstaben X-A-N-A-D-U. Der Name stammt aus der ersten Zeile des Gedichts von Coleridge:
"Und Kublai Khan verfügte, dass in Xanadu
ein Prachtpalast gebaut ward, ihm zur Freude."
Hotelnamen, die sündigen Luxus andeuteten – Deauville, Fontainebleau, Versailles und dergleichen –, waren in Miami Beach sehr gefragt. 
Das volle Wort blieb einige Sekunden erleuchtet, dann verschwand es, und das goldene Flüsschen begann wieder von Anfang an zu fließen. Mrs. Rutledge betrachtete das Zwanzig-Millionen-Dollar-Hotel und stellte fest, es müsste doch ein recht netter Platz zum Bridge spielen sein.
Während sie sich, Handtasche, Koffer und Riesenpapiersack in den Händen, auf den Weg zum Hoteleingang machte, sagte einer der Portiers: "Ob man’s glaubt oder nicht, sie kommt hierher. Na schön, einer von euch geht hin und hilft ihr." Keiner rührte sich, daher sagte der Portier in scharfem Ton: "Na also, Juan, du bist dran."
Der zwanzigjährige Juan Gomez, der vor kurzem aus Castros Kuba herübergekommen war, seufzte und stieg die Treppe hinunter. Trotz seiner kurzen Erfahrung wusste er bereits, dass von einem Gast, der mit dem Bus ankam, als Gepäck nur einen alten Handkoffer und einen großen Papiersack, kein lohnendes Trinkgeld zu erwarten war. Er sagte zu Mrs. Rutledge: "Guten Morgen, Madam, ich nehme Ihre Sachen, ja?"
"Ach, wie nett von Ihnen", zwitscherte sie. "Und bitte geben Sie acht mit dem Papiersack, die Kleidungsstücke darin müssen gewaschen werden, und ich möchte nicht, dass sie vor aller Augen ausgebreitet werden; in dem Sack ist nämlich ein kleiner Riss, und er könnte ganz zerreißen. Ich bin zum Bridgeturnier hier."
"Bridge?" sagte Juan verständnislos.
"Ja, zum Turnier."
Bridge, dachte Juan, das war ein Wort, das er heute schon des Öfteren gehört hatte; er musste doch mal feststellen, was es bedeutete. "Hierher, bitte", sagte er.
Die Hotelhalle, in die Mrs. Rutledge eintrat, maß ein Viertel Hektar und war an drei Seiten von einem tropischen Urwald umgeben, der zwanzig Meter hoch zum Himmel wuchs. Es war kein feindlicher, sondern ein wohnlicher Urwald, der durch riesige Glaswände von der Halle zurückgehalten wurde. Hinter dem Glas rankten sich Palmen, Orchideen und allerlei andere Pflanzen auf sorgfältig verteilten Felsen nach oben. Verborgene Lampen erhellten Ausblicke auf Miniaturweiher und –wasserfälle. Im Inneren der Halle hatte der Architekt rund um schwarze Tische, schwarze Stühle und Sofas aus Vinyl gruppiert und sie mit Kissen in Feuerrot, Orange und Gelb garniert. Der palmblattgüne quadratische Teppich mit mehr als 30 Meter Seitenlänge war gut ein Zoll dick, mit großen, erhaben herausgearbeiteten Mustern in Rosa, Purpur und Orange, die aussahen wie exotische Wasserlilien auf einem Teich. Im Osten öffneten sich die Urwaldwände und ließen Freiluftschwimmbassins und Badehütten im Patio und, im Hintergrund, den Atlantischen Ozean sichtbar werden.
Die Halle verursachte bei Mrs. Rutledge ein unbehagliches Gefühl, eine bei ihr recht seltene Reaktion. Sie war nicht sicher, ob das Xanadu sich der Tatsache gegenüber, dass sie die Rechnung nicht bezahlen konnte, so nett verhalten würde wie die meisten anderen Hotels. Sie war aber gar nicht feige, außer ab und zu, wenn es galt, einen Schlemm anzusagen, daher schritt sie zur Rezeption, sagte ihren Namen und dass sie für die zehn Tage des Bridgeturniers ein Zimmer bestellt habe. Eines wusste sie jedenfalls: zeitlich lag sie richtig. Es war erst elf Uhr morgens, noch hatte der Massenandrang nicht eingesetzt, und man würde im Hotel Zeit haben, ihr Problem mit Bedacht und, wie sie hoffte, mit Wohlwollen in Erwägung zu ziehen. Sie schrieb sich ein und wartete, bis der Angestellte den weißen Zettel mit ihrer Zimmernummer und dem Preis, $16 pro Tag, ausgefüllt hatte.
"O weh", sagte sie in klagendem Ton, "ich wusste nicht, dass es so viel sein würde."
Der Kopf des Angestellten machte einen Ruck nach oben, und er sagte ungläubig: "Zuviel? Sechzehn im Tag?"
"Der Fehler liegt sicher bei mir", sagte sie, während ihr weicher Virginiaakzent wie tröstender Balsam von ihren Lippen strömte. "Ich sehe in letzter Zeit wirklich nicht sehr gut, und ich glaubte auf der Bestätigung, die Sie mir geschickt haben, sechs Dollar gelesen zu haben. Aber ich hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung, was für ein bezauberndes Hotel das hier ist, sonst hätte ich gewusst, wie albern das von mir war. Wie Bobby immer sagte – das war mein verstorbener Mann, Robert Lee Rutledge –, er pflegte zu sagen, Mary Rose, du bist so hübsch wie ein Kolibri, aber du hast auch nicht mehr Verstand als einer dieser Vögel. Das war natürlich vor unvordenklichen Zeiten, vielleicht sah ich damals hübsch aus, zumindest für Bobby. Könnte ich mit dem Direktor, o Gott nein, ich möchte keinen so wichtigen Mann mit meinem kleinen Problem belästigen, aber vielleicht sonst jemand?"
Die Falte auf der Stirn des Rezeptionsbeamten glättete sich allmählich, während die weiche Stimme seine Ohren umschmeichelte. Gegenüber Beschwerden, Geknurre, Spott und Vorwürfen war er abgehärtet, doch das war anders. Die alte Dame hatte gleich zu Beginn zugegeben, dass sie Unrecht hatte. Und die Bemerkung, sie sei einmal hübsch gewesen, wenigstens für ihren Mann, kam irgendwie gut an bei ihm. "Augenblick mal", sagte er und entfernte sich.
Kurz darauf kam ein anderer Mann an die Theke und sagte lebhaft: "Guten Morgen, ich heiße Rothman und bin der zweite Direktor. Es scheint hier ein Missverständnis vorzuliegen?"
"Auch Ihnen einen guten Morgen", flötete Mary Rose Rutledge. "Wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie sich für mich alte Person Zeit nehmen. Das einzige Missverständnis liegt bei mir und meinem Vogelhirn, und es würde mir um nichts in der Welt einfallen, Sie zu belästigen, wenn ich nicht so lang gespart und mich so sehr darauf gefreut hätte. Es ist mein erstes nationales Turnier. Halten Sie mich nun nicht für eine Hinterwäldlerin, die nicht Bridge spielen kann, nur weil es mein erstes nationales Turnier ist! Ich rangiere in der Bewertung als Masterspielerin. Hier, diese Karte beweist es." Sie holte die gelbe Karte aus ihrer Handtasche und zeigte sie ihm. "Hier steht, dass ich zwanzig oder mehr Masterpunkte erreicht habe, ich muss aber offen zugeben, es sind genau zwanzig, sechzehn schwarze und vier rote Punkte. Wenn aber jemand rote Punkte besitzt, dann spielt er recht gut Bridge, denn rote Punkte kann man nur bei National-oder Regionalturnieren gewinnen."
Während J.B. Rothman lauschte, wurden seine Sinne sanft eingehüllt; er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Rote Punkte! Was waren das für rote Punkte, zum Teufel? Als Kind hatte er während des zweiten Weltkriegs seine Mutter davon sprechen hören, dass man rote Punkte brauchte, um Fleisch zu kaufen. Er versuchte wieder auf das vorliegende Problem zu kommen. "Es handelt sich also anscheinend um den Zimmerpreis, nicht wahr?" fragte er. "Sechzehn Dollar? Mrs. Rutledge, der 10. März fällt für uns in die Hauptsaison, das für Sie reservierte Zimmer kostet zum Normalpreis im März achtundvierzig Dollar. Wir haben für dieses Bridgeturnier wirklich Sonderpreise veranschlagt."
"Ja, ganz sicher, und ich weiß, das Zimmer wäre wunderschön und ist auch bestimmt den geforderten Preis wert, aber ich habe dem netten jungen Mann, der mit mir sprach, bereits gesagt, ich habe mich bei der Bestätigung, die Sie mir sandten, verlesen, ich glaubte, es seien sechs und nicht sechzehn Dollar pro Tag für das Zimmer. Ich bekomme nur achtundsiebzig Dollar und vierzig Cents von den lieben Leuten der Sozialversicherung, und zweihundert von einer Treuhandstiftung, die Bobby vor seinem Tod abgeschlossen hat – das war mein verstorbener Mann, Robert Lee Rutledge –, und ab und zu schickt mir meine drüben in Baltimore verheiratete Tochter einen Zehndollarschein in einem Brief; das ist alles, was ich bekomme, und ich habe mich so darauf gefreut, in Ihrem reizendem Hotel zu wohnen."
"Mrs. Rutledge", sagte er, nicht ganz so lebhaft wie zuvor, "wir haben vierhundert unserer Zimmer zum Sonderpreis für dieses Turnier reserviert, sie sind alle besetzt, und wir werden pausenlos von überallher angerufen, ob noch etwas frei ist. Wenn Sie unangemeldet kämen, könnte ich Ihnen nicht einmal ein Zimmer für achtundvierzig Dollar am Tag geben." 
"Einfach schrecklich, dass ich Sie so belästige", sagte die sanfte Stimme. "Bobby hat es ja auch gleich nach unserer Hochzeit gesagt, Mary Rose – so heiße ich –, Mary Rose, du bist ein lästiges Mädchen. Es ist natürlich schon lange her, dass ich ein Mädchen war, aber leider bin ich immer noch lästig. Hätten Sie nicht vielleicht eine kleine Besenkammer, die Sie mir geben könnten? Ich bin mit ganz wenig zufrieden."
Der Angestellte hatte J. B. Rothman gesagt, die alte Dame hätte so ’ne gewisse Art, mit der sie einen weich machte, aber ihn würde sie doch nicht weich machen, oder? Er sagte schwach: "Madam, im Xanadu gibt es keine Besenkammern. Wir haben eine eingebaute Staubsaugeranlage."
Sie sagte leise: "Ich würde auch kaum Ungelegenheiten bereiten. Mein Gott, ich könnte sogar mein Bett selbst machen."
Es war unglaublich, sagte sich Rothman. Das konnte sie ihm doch nicht antun. Er griff nach der Aufnahmekarte, strich die $16 durch, schrieb statt dessen $6, paraphierte sie und stellte den Preis auf ihrer Zimmerkarte richtig. Am Monatsende würde der Buchprüfer deshalb anfragen, der Direktor würde wissen wollen, wie zum Teufel das möglich sei, und J. B. Rothman würde nicht in überzeugender Weise erklären können, was Lächeln, honigsüßer Akzent und flehender Blick einem anzutun vermochten. "Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt bei uns", sagte er mit erstickter Stimme. "Und bitte, machen Sie Ihr Bett nicht selbst, das Zimmermädchen ärgert sich sonst noch. Page, bringen Sie die Dame in ihr Zimmer." Er wandte sich ab, ehe sie ihn mit Dankbezeugungen überschütten konnte.
Mrs. Rutledge folgte Juan Gomez zu der Grotte, die zu den Fahrstühlen führte, und Rothman knurrte zu dem Rezeptionsbeamten: "Ich glaube, da sind wir reingelegt worden."
"Hatten Sie einen schlechten Eindruck von ihr?" fragte der andere.
"Nein, ich bin nur ganz wirr."
Rothman blickte Mrs. Rutledge nach und fragte sich, aus welchem Grund sie so weit zu einem Bridgeturnier gefahren war. Er verstand die üblichen Zusammenkünfte, bei denen sich Leute versammelten, um Geschäfte abzuwickeln, die sie in kleinen Gruppen nicht zu erledigen vermochten. Aber um Bridge zu spielen, brauchte man nur vier Menschen, nicht wahr? Warum kamen sie dann in Schwärmen heran, um täglich bis zu acht Stunden lang auf kleinen vergoldeten Stühlen zu sitzen und einander kalten Rauch ins Gesicht zu blasen? Das war ein Rätsel, wie die Lemminge, die quer durch Norwegen hasteten, um sich in die See zu stürzen. Nun, hoffentlich kam Mrs. Rutledge auf ihre Rechnung. Wenn sie beim Bridgespiel so geschickt war wie bei Hotels, dann musste sie Meisterin sein.
Mrs. Rutledge, die beim Bridge nicht so geschickt war wie bei Hotels und tatsächlich gar nicht wusste, dass sie ein Spiel mit Hotels spielte, das sie immer gewann, trabte glücklich hinter Juan Gomez her. Wenn man den Leuten sein Problem erklärte, überlegte sie, waren sie wirklich nett. Sie wusste nicht, was sie hätte anfangen sollen, wenn es keine Turniere gegeben hätte, zu denen man fuhr, und mit den zweihundertsiebzig Dollar und vierzig Cents im Monat konnte man sich’s nicht leisten, diese horrenden Hotelpreise zu bezahlen. Mein Gott, da war das Essen und das Fahrgeld für den Bus zum nächsten Turnier, und auch noch die Gebühr für jeden Bridgedurchgang.
Bei nationalen Turnieren volle drei Dollar für jedes Mal, das sie spielte! Sie glaubte nicht, dass sie für mehr als fünfmal zahlen konnte, sechsmal, wenn sie mit dem Essen Glück hatte.
Juan Gomez führte sie in das Zimmer im zweiten Stockwerk, machte die Runde, um die Einstellung der Klimaanlage zu kontrollieren und die Vorhänge aufzuziehen, während Mrs. Rutledge leise Ausrufe des Entzückens über die Größe des Zimmers, die elegante Einrichtung und die zwei Betten – beide für sie, wenngleich sie nur eines benützen würde – von sich gab. Juan war mit seiner Aufgabe zu Ende und wandte sich zögernd der alten Dame zu, ohne eigentlich ein Trinkgeld zu erwarten. Sie nahm ein Zehncentstück aus ihrer Geldbörse und reichte es ihm mit zweifelndem Lächeln, denn manchmal waren Hotelpagen nicht freundlich, wenn sie zehn Cents bekamen.
Juan warf einen Blick auf das Geldstück; bei manchen Gästen war bei einem Dollar nicht mehr als ein Kopfnicken angebracht, aber für die Senora waren zehn Cents wirklich eine große Summe. Er wollte das Geld nicht nehmen, aber das hätte vielleicht wie eine Beleidigung ausgesehen, also nahm er es, verbeugte sich und sagte "Mil gracias, Senora"; dann ging er.
Mrs. Rutledge packte ihre Sachen aus und wusch ihre Wäsche im Badezimmer – es war fast eine Sünde, in einem so schönen Zimmer zu waschen –, steckte ihr elektrisches Plätteisen an und bügelte die Falten aus dem Kleid, das sie abends bei der Wohltätigkeitskonkurrenz für Paare tragen würde, dem ersten Wettkampf des Turniers. Dann ging sie zu der Tür, die zum Balkon führte, und trat hinaus. Die Aussicht raubte ihr den Atem. Hauptgebäude und Seitenflügel des Xanadu umschlossen einen mächtigen Patio, in dem Palmen standen, grüne Springbrunnen schäumten und drei Schwimmbecken diamantfarben in der Sonne glitzerten. Zwei von den Becken waren mit gefiltertem Salzwasser gefüllt; im Atlantischen Ozean jenseits der Kaimauer schwamm fast niemand, denn dort gab es allerhand unsaubere Meerespflanzen und manchmal sogar die blauen Flossen der Portugiesischen Staatsgaleere, einer stacheligen Röhrenqualle. Ein Becken war mit einer Einfassung umgeben und mit geheiztem Süßwasser gefüllt, für den Fall, dass ein Gast keine Lust hatte, sich mit einem Seewasserbecken zu begnügen.
Sie blickte hinunter und fühlte, wie die Erregung eines herannahenden Turniers sie ergriff. Vielleicht würde es wieder so aufregend werden wie vor zwei Monaten in Boston. Sie reiste seit Jahren von einem Turnier zum anderen, ergatterte mühselig da einen schwarzen Punkt und dort den Bruchteil eines schwarzen Punkts; sie hatte schon die Hoffnung aufgegeben, jemals eine Meisterin mit zwanzig schwarzen Punkten zu werden, kaum hatte sie daran zu denken gewagt, jemals einen roten Punkt zu erringen. Sie erwartete nicht, beim individuellen Regionalturnier in Boston etwas zu gewinnen, hoffte aber doch wenigstens auf das aufregende Erlebnis, mit einem oder zwei Life Masters zu spielen. Bei einem Individual-Turnier spielte man jedes Spiel mit einem anderen Partner – im Ganzen sechsundzwanzig Spiele –, und wenn man mit seiner Auslosungskarte Glück hatte, mochte es geschehen, dass man mit Könnern spielte, die man sich bei normalen Paarungen nie als Partner auch nur zu erträumen gewagt hätte. Diesmal war ihre Auslosungskarte einfach verzaubert worden, jeder einzelne ihrer Partner war ein Life Master! Selbstverständlich zeigten sie ihre goldenen Life Master-Karten nicht offen, aber Mrs. Rutledge wusste es aus der Art, wie sie reizten und wie sie ihre Blätter spielten; nachher suchte sie die Namen auf der Ergebnisliste heraus und sah, dass jeder einzelne eine Bridgeverbandsnummer hatte, die mit dem ehrfurchterregenden "L" oder einem anderen Buchstaben begann, die bedeuteten, dass es Bridge-Fürstlichkeiten waren mit mindestens dreihundert Punkten, von denen fünfzig rote Punkte sein mussten. Während dieses zauberhaften Turniers gab es nur wenige Spiele, die Mrs. Rutledge zu spielen hatte, und meist hatte sie nur ganz wenige hohe Karten in ihrem Blatt, so dass während des ganzen Turniers die Großmeister ihr gegenüber saßen, Endspiele und Wiener Coups durchführten, und am Ende erschien auf der Ergebnistafel neben ihrem Namen die große rote Nummer 1; sie war Gesamtsiegerin in diesem Turnier mit einhundertzweiundsiebzig Tischen, hatte vier rote Punkte gewonnen und war Meisterin geworden! Bei den anderen drei Konkurrenzen des Turniers hatte sie kein Glück und endete mit einem schlechten Endergebnis, aber das erste Zauberturnier konnte ihr keiner mehr nehmen, ebenso wenig die vier roten Punkte.
Es war nun Zeit für das Mittagessen, aber sie rührte das Stück Zwieback und die Orange, die sie vom Frühstück aufbewahrt hatte, nicht an; sie würde sie später verzehren. Dann löste sie die Sicherheitsnadel, mit der die kleine Börse innen an ihrem Kleid befestigt war, zählte sorgfältig die Geldscheine – vierundsiebzig Dollar – und steckte neun Dollar in ihre schwarze Handtasche. Es geschah oft, dass sie Dinge fallen ließ, manchmal verlor sie sie auch, und es wäre nicht gut, wenn sie all ihr Geld verlor. Natürlich würde sie mit vierundsiebzig Dollar nicht das ganze Turnier auskommen, aber sie konnte damit rechnen, dass Beau – Beauregard Hollins, der Bobbys bester Freund in Richmond gewesen war – ihr einen Bankscheck auf hundert Dollar von ihrem monatlichen Einkommen schicken würde. Beau war der netteste alte Herr, den man sich denken konnte, er erledigte alle Geschäfte für sie, und da er Besitzer des James Landing Hotels in Richmond war, ließ er sie immer umsonst dort wohnen, wenn es keine Turniere gab, bei denen sie mitmachen konnte.
Sie ging nach unten und fragte den Portier, ob keine Briefe für sie gekommen seien. Nein, es gab keine. Einen Augenblick ließ sie die Schultern hängen; den letzten Brief von ihrer Tochter aus Baltimore hatte sie vor drei Wochen erhalten. Nun benimm dich aber nicht albern, Mary Rose, sagte sie zu sich, Barby hat das große Haus zu führen, den vielbeschäftigten Mann und drei Kinder, sie findet einfach keine Zeit, alle Augenblicke Briefe zu schreiben. Sie straffte die Schultern, suchte den Eingang zum Kaffeesalon im Tiefparterre des Xanadu und trat ein; sie nahm an einem langgestreckten Tisch Platz, an dem viele Leute saßen, und bestellte eine dicke nahrhafte Suppe und eine Tasse Tee. Als der Tee kam, öffnete sie fünf kleine Zuckersäckchen – Zucker verlieh einem Energie, und fünf Säckchen kosteten keinen Cent mehr – und leerte den Inhalt in ihren Tee. Während sie die Suppe aß und Tee trank, holte sie nochmals Barbys Brief aus ihrer Tasche hervor. Sie las ihn wieder, in der Hoffnung, einen Hinweis Barbys übersehen zu haben, sie solle doch zu Besuch nach Baltimore kommen. Aber da war nur die Rede davon, wie viel Barbys Mann zu arbeiten hatte, dass der kleine Jimmy vielleicht die Masern bekäme, und wie viel Zeit Barby für die Führung des Haushalts und ihre Stellung als zweite Vizepräsidentin des Frauenklubs brauchte.
Als einer der Gäste den langen Tisch verließ, blieben auf seinem Teller zwei von den vier kleinen Dreiecken eines Schinkensandwichs mit Salat und Tomaten zurück. Mrs. Rutledge langte, ohne schuldbewusste Seitenblicke und ohne Hast, die Aufmerksamkeit erregt hätten, über den Tisch und zog den Sandwichteller zu sich herüber. Das war ein feines Mittagessen geworden, und heute Abend konnte sie auf eine Gratismahlzeit nach dem Bridgespiel rechnen – Kaffee und Kuchen, vielleicht sogar noch Sandwiches –, außerdem hatte sie noch die Orange und den Zwieback auf ihrem Zimmer, und sieh nur, da stand einer auf und ließ mehrere Pfannkuchen in Reichweite zurück! Sie schob sie in ihre Papierserviette und steckte sie in die Handtasche.
Alles entwickelte sich sehr nett, abgesehen vom Fehlen des Briefes. Wenn es keine Bridgeturniere gäbe, was hätte sie dann wohl getan? Sie war nun siebenundsechzig Jahre alt, die meisten ihrer Freunde waren gestorben oder fortgezogen; die anderen wollten nur stillsitzen und von ihren Wehwehchen reden. Die Fahrten zu den Bridgeturnieren bewahrten sie davor – nun ja, eigentlich vor dem Sterben. Bei den Turnieren gab es immer so interessante Menschen, die hätten einen abseits vom Bridgetisch vielleicht gar nicht angeblickt, wenn man aber mit ihnen oder gegen sie spielte, dann gehörte man selbst zu den wichtigsten Menschen der Welt. Es gab Glück und Unglück; das Glück ein Spiel zu machen, bei dem man fallen sollte, das Unglück, eines zu verlieren, das man machen sollte. Und es gab die Hoffnung, dass auch diesmal, wie in Boston, eine gütige Fee hinter deinem Stuhl schweben, dich mit ihrem Zauberstab berühren und flüstern würde, Mary Rose, steig ein in diese kleine alte Kürbiskutsche, dann wollen wir sehen ob wir dich bei diesem Bewerb zur Gesamtsiegerin machen können. Ach ja, das war das Leben in seiner ganzen Pracht!
Sie verließ den Kaffeesalon und ging nach oben, um sich die Aushänge für das Turnier anzusehen und sich vor Beginn zu vergewissern, wo das Partner-Komitee tagte. Vielleicht würde ihr gerade heute das Komitee einen wunderbaren Partner bescheren, einen Meister, der alle schwierigen Blätter spielen und sie nie böse ansehen würde, wenn sie einen Fehler beging.

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